(Ent-)Täuschung am Jahresende?

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Und täglich jährlich grüßt das Murmeltier: Kurz vor Jahresende ziehen viele Menschen Bilanz. In einigen Bereichen gibt es Zufriedenheit. Oder zumindest Erleichterung darüber, dass es keine deutliche Verschlechterung gibt wie beispielsweise bei der Gesundheit. Es könnte viel schlimmer sein wie etwa beim Freund X. Bei der Bekannten Y läuft es beruflich aktuell nicht so gut. Also könnte man eigentlich zufrieden sein. Eigentlich – ein Füllwort, das bei Texten häufig gestrichen wird, weil es nicht gebraucht wird, um eine Nachricht zu transportieren.

Was könnte dieses „eigentlich“ bedeuten? Möglicherweise liegt es daran, dass die Person das, was sie (erreicht) hat, nicht (mehr) zu schätzen weiß. Darum soll es an dieser Stelle nicht gehen, sondern warum wir uns gelegentlich selbst Märchengeschichten erzählen.

Das sich selbst Belügen funktioniert bei sehr vielen Leuten sehr gut. Manches Mal geht das über viele Jahre oder sogar über Jahrzehnte gut. Solange wir uns nicht mit anderen vergleichen (müssen), also, solange es keine gravierenden Änderungen bei uns oder in unserem Umfeld gibt, wo die meisten so sind und auch so bleiben wie immer, ist die Welt in Ordnung. Es wird erst zum Problem, sobald es Leute in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis gibt, die erfolgreicher sind oder mehr Glück zu haben scheinen als man selbst.

Je nach Persönlichkeit gibt es unterschiedliche Strategien, wie mit so etwas umgegangen wird. Entweder zieht es jemand vor, sich selbst die Stress-Ausrede zu erzählen: „Wie hätte ich das schaffen sollen? Das wäre unmöglich gegangen, weil ich so viel andere Dinge zu tun hatte.“ Oder jemand erklärt es sich in Form einer sich selbst rechtfertigenden Beschwichtigung à la: „Na ja, so wichtig wie dem/der X ist mir das nicht, sonst hätte ich das natürlich auch gemacht.“ Oder jemand zieht es vor, die Glücks- und Schicksals-Ausrede zu erfinden: „Der/die hatte einfach Glück, mir ist dieses Schicksal nicht vergönnt!“

Dann gibt es natürlich auch die sehr beliebte Talent-Ausrede: „Er/Sie ist viel begabter und somit ist es keine Überraschung.“ Manche werden neidisch und beginnen, die andere Person zu attackieren: „Der/die hat sicher geschummelt.“ Oder „Er/sie hat sich das ergaunert.“ oder „Er/sie wurde garantiert bevorzugt!“ oder „Er/Sie ist dadurch richtig unsympathisch geworden.“ Oder „Er/Sie hat sich dadurch völlig verändert.“ oder „Man merkt, dass ihm/ihr der Erfolg zu Kopf gestiegen ist.“ Etliche beginnen sogar, sich selbst beschimpfen, in der Bandbreite von: „Du Faulpelz!“, bis zu: „Ich habe es gewusst, Du bist ein/e Versager/in!“.

Wer sich jetzt beim einen oder anderen Gedanken ertappt gefühlt hat: Das ist menschlich und normal. Und auch ich kenne das aus eigener Erfahrung. Ich war früher auch so eine, die sich ihre Ausreden so zurechtgerückt hat, wie sie diese gerade gebraucht hat.

Das führt leider dazu, dass wir uns fürs neue Jahr erst gar keine Ziele setzen. Somit soll jegliche Enttäuschung über uns selbst von vornherein ausgeschlossen werden. Oder wir setzen uns dermaßen minimale Ziele, dass wir sie gar nicht verfehlen können. Ist auch nicht sehr befriedigend.

Wenn widersprüchliche Gedanken oder Emotionen auftreten, spricht man in der Psychologie von der sogenannten kognitiven Dissonanz. Das ist ein innerer Spannungszustand. Um diesen Zustand zu lösen, gibt es verschiedene Wege, wie beispielsweise ignorieren, verdrängen oder vergessen. Eine andere Möglichkeit ist es, eine differenzierte Sichtweise zu entwickeln, die zur jeweiligen Persönlichkeit passt.

Dafür möchte ich ein Beispiel aus meiner Vergangenheit erzählen. Nach meiner Drehbuchausbildung habe ich mir permanent eingeredet, dass ich „eh demnächst“ ein Drehbuch schreiben würde. In Wirklichkeit hatte ich Angst davor, dass es nicht gut genug sein könnte. Jahre später schrieb ich dann endlich eines, war damit aber nicht zufrieden – ganz klar, weil ich mir ja schon vorher eingeredet hatte, dass es gar nicht gut genug sein würde. Anstelle dran zu bleiben und es zu überarbeiten habe ich es in die Schublade gepackt.

Als ich darüber nachgedacht habe, warum das damals so lief, fiel mir ein, dass mir irgendwann einmal jemand gesagt hatte: Man muss mindestens 3 Drehbücher schreiben, wovon man zwei davon wegwerfen muss, weil es eh nicht gut ist und erst das letzte kann man erst gebrauchen. Aus heutiger Sicht schüttle ich den Kopf darüber und denke mir: „Welch ein Unsinn!“

Einige Jahre später war ich bei der Präsentation des Diplomfilms einer Freundin eingeladen, die in München an der Hochschule für Film und Fernsehen Regie studiert hatte. Den Schmerz, den ich damals empfand, als mir meine eigene Untätigkeit bewusst wurde, ist mir immer noch in guter Erinnerung. Ich hatte mir permanent Ausreden erzählt, dass ich nicht gut genug sein würde. Das hatte jegliche Handlung gelähmt.

Natürlich freute ich mich für die Freundin und gleichzeitig führte sie mir vor Augen, was gewesen wäre, wenn ich nicht unnötig Jahre verschlafen hätte. Anstelle all die Jahre nur privat für mich zu schreiben hätte ich von mehreren unabhängigen Experten Feedback einholen und das Drehbuch so lange überarbeiten können, bis ich selbst damit zufrieden gewesen wäre. Dann hätte ich die Produzenten kontaktieren können, die ich aufgrund meiner Arbeit bei verschiedenen Filmprojekten kannte. Dann wäre mein Drehbuch möglicherweise verfilmt worden.

Ja genau. Was alles hätte sein können … es gibt Menschen, die verbringen Jahre damit, über solche Dinge zu grübeln, was hätte sein können und so wollte ich nicht sein. Andererseits konnte es nicht so weiter gehen. Ich wollte nicht zu jenen Leuten gehören, die sich permanent irgendwelche Geschichten erzählen, die ihre eigene Feigheit rechtfertigen. Darauf habe ich mich zu zwei Kursen angemeldet: zu einem weiteren Drehbuchkurs und zum Lehrgang Literarisches Schreiben.

Ich hätte nie vermutet, dass mir das literarische Schreiben so große Freude bereiten würde. An einer öffentlichen Lesung teilzunehmen hätte ich mir im 1. Semester kaum vorstellen können. Und später war es für mich auch nicht vorstellbar, dass ich eine meiner Kurzgeschichten im Literaturhaus Wien präsentieren würde. Meinen ersten Roman bereits auf einer der größten Buchmessen im deutschsprachigen Raum vorzustellen, erschien für mich damals völlig utopisch.

Somit kann ich sehr gut nachvollziehen, wie es vielen Leuten geht, vor allem in diesen Tagen. So viele Menschen würden sich gerne kreativ verwirklichen. Sie unterliegen einem falschen Bild, das ihnen von Unwissenden eingeredet wurde, also Leuten, die selbst nie künstlerisch oder kreativ tätig waren. Diese glauben ernsthaft, man müsse ein „geborenes Talent“ sein. Dieses Talent hat von Beginn an geniale Ideen und vor allem schreibt es perfekte Texte, die man nicht mehr überarbeiten muss. Auch ich dachte früher so. Trotz der starken Sehnsucht habe ich mich lieber selbst fertig gemacht, weil ich dachte nicht so gut zu sein wie die erfolgreichen Autoren, die ich seit Jahrzehnten angehimmelt hatte.

Im Umfeld der Schreibseminare veränderte sich im Laufe der Jahre meine Sichtweise. Ich habe gelernt, dass das von der Muse geküsste Genie ein Trugbild ist, das im deutschsprachigen Raum immer noch weit verbreitet wird. In der englischsprachigen Welt sind Schreibseminare ganz normal und sie werden an vielen Universitäten angeboten. Es gibt keine geborenen Genies, sondern fürs Schreiben brauchen wir Erfahrungen mit Texten. Durch Lesen und vor allem die Praxis beim Schreiben.

Lasse Dich nicht von Herausforderungen oder sonstigem, das dem Erreichen Deines Ziels hinderlich ist, abbringen. Bleib weiter dran, egal ob es sich um die Verwirklichung eines kreativen oder eines anderen Ziels handelt.

Es kann hilfreich sein, Dir folgende Fragen zu stellen:

Wie denken die Menschen, die in dem Gebiet erfolgreich sind, wo Du hin möchtest?
Was tun sie?
Was davon könntest Du auf Dich anwenden?
Gibt es möglicherweise etwas, das Du von ihnen lernen kannst?



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